Dao

Kapitel 1 – Verzweiflung

Abschnitt 1

Ein steiler, durch den anhaltenden Nieselregen schlüpfriger Weg führte in vielen Windungen den Berg hinauf. Mit zügigen und dennoch sicheren Schritten strebte ein etwa dreißigjähriger Mann auf diesem dem Gipfel entgegen. Nur noch wenige Meter trennten ihn vom höchsten Punkt, als der schmale Pfad um einen leicht vorspringenden Felsgrat bog. Nachdem er diese nicht ganz ungefährliche Stelle passiert hatte, wurde der Blick frei auf eine kleine Terrasse. Bei schönem Wetter konnte man von dieser Stelle aus weit ins Land schauen, doch an diesem Tag war durch das neblige und regnerische Wetter die Sicht bis auf wenige Meter eingeschränkt. Am Rand dieses überhängenden Felsstückes, nur eine Handbreit vom Abgrund, stand eine junge Frau. Die nassen, verklebten Haare hingen ihr ins Gesicht und an ihrer durchnässten Kleidung konnte man erkennen, dass sie schon länger hier stand.
Ungehört von der Frau ging der Mann zu der etwas überhängenden Felswand, die in einem leichten Halbkreis den hinteren Teil dieses Ortes umrahmte. Nachdem er sie eine Weile beobachtet hatte, durchbrach er die Stille.
»Warum wollen Sie Ihr Leben wegwerfen, es hat doch gerade erst begonnen?«
Erschrocken fuhr die Frau herum und wäre dabei beinahe abgerutscht. Das Gleichgewicht wieder erlangend und einen Schritt vom Abgrund zurückweichend, schaute sie den Mann mit weit aufgerissenen Augen an.
Sein schon fast ganz ergrautes Haar schien seltsamerweise noch vollkommen trocken zu sein. Groß und schlank gewachsen, strahlte er eine Ruhe aus, wie sie es noch nie gespürt hatte. Auf einem Bein stehend, das andere angewinkelt an der Felswand, schaute er ihr freundlich lächelnd in die Augen. Dieser Blick hielt sie kurze Zeit gefangen.
»Wer sind Sie? Wo kommen Sie her? Wie lange stehen Sie schon hier?«
Er lachte fast unhörbar.
»Mein Name tut hier nichts zur Sache. Sie kennen mich ja doch nicht.«
»Noch nicht!«, fügte er lächelnd hinzu. Tief sog er die frische, feuchte Luft ein und sie hatte den Eindruck, dass er bis in ihr Innerstes sehen konnte.
»Ich stehe schon lange genug hier, um Ihre Absicht zu kennen. Ehrlich gesagt ist es genau das, was mich hierher geführt hat.«
»Was wissen Sie schon von meinen Absichten und was geht Sie das an?!«
Wütend drehte sie sich zum Abgrund um, und ein wenig leiser fügte sie hinzu: »Sie haben doch keine Ahnung! Für Sie scheint das Leben in Ordnung zu sein.«
Ihre Gedanken rasten und setzten fort, was sie laut ausgesprochen hatte.
»Aber für mich ist es nicht mehr lebenswert. Ich habe alles verloren, selbst zerstört! Ich habe ja selbst keine Achtung mehr vor mir, wer sollte mich denn noch mögen nach dem, was ich getan habe!?«
Tränen mischten sich ins Regenwasser, das ihr im Gesicht herunterlief. Traurig und tief verletzt stand sie da und wagte doch nicht, diesen einen Schritt zu tun. Der Zwiespalt in ihrem Inneren war riesig, sie schämte sich, fühlte sich ausgenutzt, ekelte sich vor sich selbst. Und doch wehrte sich ihr Verstand, ihre Seele gegen die Selbstvernichtung.
»Sicherlich sieht es so aus, als ob das Leben für mich in Ordnung wäre, aber das war nicht immer so. Auch ich wollte meinem Leben am liebsten ein Ende setzen, und glauben Sie mir, es war zwar aus einem anderen Grund, aber für mich war in diesem Moment das Leben auch nicht mehr lebenswert. Doch nichts auf dieser Welt kann rechtfertigen, dass jemand sein Leben wegwirft. Ich denke, ich weiß wovon ich spreche, denn ich habe genug erlebt. Und das, weswegen Sie Ihr Leben wegwerfen wollen, ist es nicht wert, diesen Schritt zu tun! Nicht Sie müssen sich schämen für das, was Sie getan haben, sondern die, die Sie ausgenutzt und benutzt haben! Eigentlich sind Sie doch ein Opfer, das Opfer des Bedarfs, der Wünsche und Fantasien anderer.«
Langsam, wie die Tropfen des Regens, drangen die Worte in sie ein und nur zögernd wurde ihr bewusst, dass er sprach, als ob er all ihre Gedanken kennen würde. Sie drehte sich wieder um, sah ihn mit ihren verweinten, tieftraurigen Augen an und versuchte zu ergründen was, wie viel und woher er es wusste.
»Ich kenne Sie nicht und doch sprechen Sie so, als ob Sie alle meine Gedanken kennen würden. Woher wollen Sie wissen, warum ich hier stehe, weshalb …«
Plötzlich durchzuckte ein Gedanke ihr Gesicht, ihre Augen blitzten auf und zornig, aggressiv, ja feindselig fuhr sie ihn an.
»Außer«, sie dehnte die Worte und wirkte wie ein Panther vor dem Sprung, »außer, Sie sind auch einer von denen, die sich diesen Dreck anschauen und sich dran aufgeilen!«
Lauernd sah sie ihn an und wartete auf seine Reaktion. Doch diese fiel ganz anders aus, als sie erwartet hatte. »Eine logische Schlussfolgerung, doch weit daneben. So ohne Weiteres können Sie es doch nicht verstehen. Aber vielleicht sollte ich Ihnen eine Geschichte erzählen, damit Sie das Leben, auch Ihr Leben, besser verstehen. Ihr Zorn ist verständlich, da Sie sich ausgenutzt und missbraucht fühlen und doch haben Sie es freiwillig und bei vollem Bewusstsein der Folgen getan. Eine Zeitlang hat es Ihnen ja auch Freude bereitet. In meinen Augen ist auch nichts Verwerfliches dabei, solange man seiner Seele keinen Schaden damit zufügt. Viel schöner und erfüllender ist es aber, wenn es aus Liebe geschieht.«
»Woher …«, zögernd und immer noch ablehnend kamen die Worte über ihre Lippen, »woher wissen Sie das alles, mit wem haben Sie gesprochen, wer hat Ihnen das alles über mich erzählt?«
Halblaut, mehr zu sich gesprochen, fügte sie noch hinzu: »Aber eigentlich, eigentlich habe ich doch mit keinem darüber gesprochen?! Keiner weiß, wie ich mich fühle, was mich bewegt, wonach ich mich sehne.«
Ihre Augen wurden wieder feucht.
»Nein! Sie haben mit keinem darüber gesprochen, haben alles in Ihrer Seele eingeschlossen! Sie schämen sich. Sehen in jedem Blick Ablehnung. Haben das Gefühl, dass andere Sie verachten und sind verbittert, weil Sie denken, alle reden schlecht von Ihnen. Doch die, die am meisten mit dem Finger auf Sie zeigen und lästern sind vielleicht die Schlimmsten, und schauen voller Wollust, zwischen den Fingern, genau hin. Eigentlich sollten die Menschen nur über andere richten, wenn sie es selbst besser machen, eine Lösung für einen Konflikt haben oder ein leuchtendes Vorbild sind. Doch leider ist das nicht so!«
Eine kurze Pause entstand, in der er sich an solche Gegebenheiten erinnerte.
»Sie quälen sich und finden doch keinen Ausweg. Doch solange Sie sich so vor allen anderen verschließen, spüren diese Ihre Ablehnung, Ihre Distanz und die, die Sie mögen und Ihnen helfen könnten, finden keinen Weg zu Ihnen.«
Langsam löste er sich von der Felswand, ging zwei Schritte zur Seite und setzte sich dort auf einen Felsblock.
»Kommen Sie, setzen Sie sich mit hierher. Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen. Ob diese Geschichte wahr ist und von einem gelebten Leben handelt oder ein Traum, spielt keine Rolle. Hören Sie einfach nur zu und wenn Sie dann immer noch in Selbstmitleid versinken möchten, werde ich Sie nicht mehr stören. Dann können Sie springen oder auch ewig hier stehen bleiben.« Sie zögerte. »Bitte, bitte kommen Sie.«
Immer noch verblüfft über das nachdenkend, was sie soeben gehört hatte, ging sie langsam auf ihn zu. Sie konnte es sich nicht erklären, woher wusste er das alles, wie konnte er so über sie und mit ihr sprechen, obwohl sie sich nicht kannten. Und doch flößte er ihr fast uneingeschränktes Vertrauen ein. Sie fühlte sich viel ruhiger und entspannter. In seinen Worten hatte sie all ihr Leid und ihre Verzweiflung wiedergefunden, und wie von einer unsichtbaren Macht gezogen setzte sie sich neben ihn auf den Felsblock.
Erschrocken sprang sie im nächsten Augenblick wieder auf. Der Stein hätte nass und kalt sein müssen und doch war er trocken und angenehm warm, so, als hätte die warme Sommersonne ihn wunderschön aufgeheizt. Verblüfft schaute sie zum Himmel. Die Wolkendecke war aufgerissen und aus einem kleinen Loch, nicht viel größer als die Sonnenscheibe, lachte sie diese an. In ihren Kopf wirbelte alles durcheinander. Es war doch eigentlich gar nicht möglich, eben hatte es noch geregnet und alles um sie herum und an ihr triefte nur so vor Nässe, wie konnte da dieser Felsblock trocken und warm sein?! Ihr wurde langsam unheimlich, und noch einen Schritt zurückweichend, sah sie zu diesem seltsamen Mann hinunter. Doch er streckte nur seine Hand nach ihr aus und forderte sie nochmals auf, sich zu setzen. Sie konnte nicht widerstehen, nahm seine Hand und ließ sich auf dem Stein nieder. Eine angenehme Wärme durchströmte sie, ihr wurde leicht ums Herz und sie spürte, dass sie keine Furcht vor ihm haben musste.«
Langsam, in seinem Gedächtnis alles ordnend, begann der Mann zu sprechen.

»Es begann vor über einem Jahr mit einem richtig großen Familienkrach. Ich hatte ein gutgehendes Handelsgeschäft mit über vierzig Angestellten aufgebaut und kurz zuvor das große Potenzial entdeckt, das im Handel mit den ehemaligen Ostblockländern, Polen, Russland und der Ukraine, steckt. Leider hatte ich dabei nicht bedacht, dass es dort einige Organisationen gibt, die an jedem Geschäft mitverdienen oder auch allein verdienen wollen. Kurz und gut, es dauerte nicht lange und ich bekam Besuch von einigen unsympathischen Männern. Diese drohten mir und stellten massive Forderungen. Ich fühlte mich im Recht, ließ mich nicht so leicht einschüchtern und wies ihnen, die Gefahr unterschätzend, die Tür. Als sie den Raum verließen, drehte sich ihr Anführer um und sagte zu mir, dass ich diesen Fehler bald bereuen würde. Ich lachte ihn aus und wies ihm zornig die Tür.«
Nachdenklich und kaum hörbar fügte er hinzu: »Wie oft habe ich das bereut, wie oft habe ich mich gefragt, was wäre, wenn ich damals nachgegeben hätte. Ja, was wäre, wenn? Wie oft habe ich mich das seitdem gefragt.«
Er schüttelte sich kurz und fuhr dann, diesen Gedanken unterdrückend, mit seiner Geschichte fort.
»Am selben Abend habe ich meiner Frau davon erzählt. Erschrocken, ja panisch vor Angst, hat sie mir Vorwürfe gemacht, hat mich eindringlich gebeten nachzugeben, das Geschäft mit diesen Ländern sein zu lassen. Immer wieder sagte sie zu mir: ›Es reicht doch, was wir mit dem Handel hier verdienen, wir sind vermögend, haben alles was wir brauchen, und es geht uns besser als all unseren Bekannten, warum kannst du es nicht dabei belassen?‹ Ich habe all ihre Bedenken beiseitegeschoben, hab sie ausgelacht und auf meinem Standpunkt beharrt. An diesem Abend haben wir uns total verstritten und sind ohne Versöhnung schlafen gegangen. Ich fühlte mich im Recht und bin sofort ruhig und fest eingeschlafen, doch sie …«

»Was ist? Was haben Sie? Weshalb schauen Sie mich so an?«
Wieder war die junge Frau hochgesprungen, hatte sich losgerissen und schaute sich erschrocken um. Die Wolkendecke über ihnen war noch weiter aufgerissen. Über dem Berg war ein großes Stück blauer Himmel zu sehen und alles um sie herum machte einen freundlichen und friedlichen Eindruck. Rundherum konnte man in einiger Entfernung sehen, dass es dort immer noch neblig und regnerisch war. Nur hier in ihrer näheren Umgebung schien ein wunderschöner Sommertag zu sein. Zitternd vor Schreck sah sie den Mann wieder an und sagte: »Es ist alles so seltsam, dieser Wetterwechsel um uns herum, Ihr Auftreten, und dann, als ich die Augen geschlossen habe, ich …«, sie stockte kurz, »ich hab Ihre Frau gesehen, ich war dabei, als Sie sich gestritten haben. Ich habe alles gesehen, den Zorn gespürt, Ihre Wohnung gesehen, alle Details. Es war … war, als ob ich neben Ihnen gestanden hätte. Es … es macht mir Angst, es war alles so realistisch!«
Wieder lächelte er sie an, streckte seine Hand nach ihr aus und sagte: »Sie brauchen keine Angst zu haben, es geschieht Ihnen nichts. Wenn ich Ihre Hand halte, können Sie nur meine Gedanken fühlen und dadurch alles richtig miterleben. Es hilft Ihnen, das Geschehen besser zu verstehen und Sie werden im Laufe der Geschichte auch noch begreifen, warum das so ist.«
Er machte wieder eine einladende Bewegung und zögernd, ihn genau beobachtend, griff sie zu. Sofort spürte sie die Wärme und Ruhe in sich eindringen und gab jeden Widerstand auf. Er fuhr fort, seine Geschichte zu erzählen, und abermals hatte sie den Drang, ihre Augen zu schließen. Sie gab nach und augenblicklich war sie wieder mitten im Geschehen. Sie hatte das Gefühl, über ihm zu schweben und gleichzeitig in ihm zu sein und all seine Gefühle zu teilen.

»Der Wecker klingelte, ich tastete im Dunklen nach ihm und schaltete ihn aus. Zurück ins Bett sinkend und langsam munter werdend, wanderten meine Gedanken zurück zum Vorabend. Der hässliche Streit und all die anderen Erlebnisse des Vortages kehrten in mein Gedächtnis zurück. Ich schaute zu meiner Frau und lauschte ihren Atemzügen. Ihr Atem war ruhig und gleichmäßig, als ob sie noch tief schlafen würde und doch hatte ich das Gefühl, dass das nicht so war. Das schwache Licht der Straßenlampe, die noch durch einige Bäume verdeckt wurde, reichte nicht aus, um mehr als ihre Umrisse zu erkennen. Ich hob meinen Kopf, um ihr Gesicht besser sehen zu können, doch dadurch konnte ich sie, da ich zwischen ihr und dem Fenster lag, nur noch schlechter erkennen.
Frustriert stand ich auf und ging ins Bad. Ich wollte sie nicht wecken und falls sie munter war, wollte sie anscheinend nicht gestört werden. Beim Zähneputzen ging mir der Vortag noch einmal durch den Kopf. Der Streit mit meiner Frau lag mir schwer auf der Seele. Ich hätte mich gerne mit ihr ausgesprochen, denn ich wusste, dass sie in vielem recht hatte. Aber ich war auch nicht bereit nachzugeben, denn es war für mich eine Sache der Ehre und des Prinzips, mich solchen Leuten nicht zu beugen. Wenn ich mich im Recht fühlte, konnte ich stur wie ein alter Esel sein, und ich wich um nichts von meinem Standpunkt ab. Wir waren lange genug zusammen, sodass sie das auch wusste und ihr war klar, dass sie meine Meinung nicht ohne Weiteres ändern konnte.
Unsere Beziehung war schon seit einiger Zeit nicht mehr so harmonisch wie früher. Sie warf mir vor, zu viel Zeit und zu viele Gedanken ans Geschäft zu verschwenden und zu wenig Zeit für sie zu haben. Jetzt ist mir bewusst, wie recht sie damit hatte, denn alles ist vergänglich, nur die Erinnerungen bleiben und so war es nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Ich machte Frühstück, las die Zeitung und war in Gedanken schon wieder im Geschäft, als meine Frau die Küche betrat. Man sah ihr an, dass sie nicht erst aufgewacht und dass ihr Zorn noch nicht verraucht war. Schweigend setzte sie sich an den Frühstückstisch. Ich beobachtete sie und wusste im selben Moment, dass sie von allein beginnen musste, dass ich es nur noch schlimmer machen würde, wenn ich sie bedrängen würde. Schweigend saßen wir uns eine ganze Weile gegenüber und ich wurde langsam ungeduldig, schaute immer wieder verstohlen auf die Uhr, denn wenn ich pünktlich sein wollte, musste ich nun bald gehen. Es arbeitete in ihr und sie war wahrscheinlich kurz davor ihrem Herzen Luft zu machen, als ich es nicht mehr aushielt und sie ungeduldig ansprach: ›Gabi, entschuldige bitte, ich wollte dich gestern Abend nicht verletzen! Ich will auch keinen in Gefahr bringen und mir geht es im Prinzip auch nicht so sehr um die Gewinne aus diesen Geschäften. Aber wo kommen wir denn hin, wenn man sich von jedem erpressen lassen muss und irgendwelche Dahergelaufene einfach an unserer Hände Arbeit mitverdienen können, ohne einen Finger krumm zu machen! Ich sehe das nicht ein, und werde solchen Leuten auch niemals nachgeben!‹
Ich hatte mich wieder in Zorn geredet, holte tief Luft und fügte dann etwas ruhiger hinzu: ›Natürlich werde ich mich heute gleich noch mit der Polizei in Verbindung setzen, aber ich denke, dass die nur geblufft haben und auf Dummenfang sind.‹
Ich ahnte ja damals nicht, wie sehr ich mich geirrt hatte. Und in der Hoffnung, dass mit diesen Worten alles wieder in Ordnung wäre, fügte ich hinzu: ›Bist du mir wieder gut? Es macht mich krank, wenn ich nicht mit dir reden kann! Ich möchte doch nur, dass du mich verstehst. Ach Gabi, ich brauch dich und dein Verständnis doch!‹
›Ach ja, du brauchst mein Verständnis? Seit wann denn das? Du willst doch nur, dass ich zu allem schön Ja und Amen sage! Seit wann interessiert es dich denn, was ich denke und fühle? Du kommst nach Hause, erzählst mir von deinem Stresstag, was jener gesagt, der getan hat, welche Probleme du hattest und wie du sie gelöst hast. Dann teilst du mir noch so ganz nebenbei mit, dass du erpresst wirst und zwar mit massiven Drohungen auch gegen deine Familie. Und dann, dann willst du das mit solchen Bemerkungen wie `Ich werde es der Polizei melden.´ oder `Ich werde mich solchen Leuten nicht beugen.´ abtun!? Einfach wegwischen und zur Tagesordnung übergehen?! Was glaubst du eigentlich, wer oder was du bist, dass du einfach so über diesen Dingen stehen kannst? Ich jedenfalls fühle mich bedroht und habe Angst!‹
Sie holte tief Luft.
›Ich möchte, dass du mir jetzt genau zuhörst! Also, entweder gibst du denen nach und bezahlst, lässt diese Geschäfte sausen und gehst dem Ganzen damit aus dem Weg, oder …‹, sie holte tief Luft und fuhr mit bedrückter Stimme fort, ›oder ich werde dich verlassen!‹
Sie sah mir in die Augen, und an ihrem Blick konnte ich erkennen, dass es ihr bitter ernst war mit diesen Worten. Total überfordert fing ich an nach Ausflüchten zu suchen.
›Gabi, bitte, ich will euch, will uns nicht in Gefahr bringen! Ich denke ganz einfach nur, dass diese Leute nur bluffen und versuchen, auf eine einfache und leichte Art und Weise ans Geld zu kommen. Ich werde …‹
Zornig unterbrach sie mich.
›Siehst du, du fängst schon wieder an, das Ganze zu verharmlosen! Aber so einfach kommst du mir diesmal nicht davon! Ich hab dir drei Möglichkeiten genannt. Und glaub mir, ich habe die ganze Nacht lang gründlich darüber nachgedacht und ich möchte jetzt eine Antwort und nicht erst, wenn es zu spät ist! Ich hoffe, du hast das jetzt verstanden!‹
Sie wurde immer wütender, stand auf und lief, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen, wie ein gefangener Tiger am Tisch hin und her. Nach ein paar weiteren, sinnlosen Versuchen sie zu beruhigen und eine Entscheidung zu verschieben trat ich, um Zeit zu gewinnen, die Flucht an.
›Bitte, Gabi, können wir uns heute Abend noch mal in Ruhe darüber unterhalten? Ich muss jetzt weg, ich komme sowieso schon zu spät zur Arbeit. Ich möchte jetzt nicht so unter Zeitdruck darüber reden. Vielleicht ist es auch besser, wenn wir beide noch mal alles in Ruhe überdenken. Ich werde noch mal …‹
Sie war stehen geblieben und unterbrach mich mit einem traurigen Unterton in der Stimme: ›Heute Abend werde ich nicht mehr da sein! Entweder du entscheidest dich jetzt oder ich fahre dann mit Maria und Torsten zu meinen Eltern.‹
Fragend sah sie mich an und als ich nicht gleich antwortete fuhr sie fort: ›Gut, du willst nicht nachgeben. Aber ich gebe diesmal auch nicht nach!‹
Ihre Augen bekamen einen feuchten Schimmer.
›Okay, ich hab das Handy ja immer dabei, solltest du dir’s doch noch anders überlegen, kannst du mich anrufen. Ansonsten ist jetzt erst mal alles gesagt.‹
Mit schnellen, energischen Schritten verließ sie den Raum. Verblüfft schaute ich ihr nach. So hatte ich sie ja noch nie erlebt, aber ich nahm ihre Drohung, mich zu verlassen, immer noch nicht ernst und so machte ich mich auf den Weg zur Arbeit.
Dort angekommen, empfing mich meine Sekretärin gleich mit den Worten:
›Ein Herr Igor hat schon mehrfach angerufen und nach Ihnen verlangt. Er hat seinen Nachnamen trotz Nachfrage nicht genannt, aber ich vermute, dass es einer der Herren war, mit denen Sie gestern gesprochen haben.‹
›Was wollte er denn?‹
›Das hat er mir nicht gesagt. Er wollte unbedingt mit Ihnen selbst sprechen. Er wird nachher noch mal anrufen.‹
›Danke.‹
Ich betrat mein Büro, ließ mich in meinen Sessel fallen, und nachdenklich strich ich mir über die Stirn. Warum war bloß alles so kompliziert? Ich war immer ehrlich und zum beiderseitigen Vorteil mit meinen Kunden umgegangen. Weshalb ich mir auch einen sehr guten Namen in der Branche gemacht hatte. Viele meiner Kontakte hatte ich Empfehlungen anderer Kunden zu verdanken, worauf ich auch sehr stolz war, und nun war ich plötzlich mit einem Problem konfrontiert, auf das ich überhaupt nicht vorbereitet war. Ich hatte den Kopf immer noch in meinen Händen vergraben und grübelte darüber nach, wie ich mich aus der Affäre ziehen könnte, als das Telefon klingelte. Ich richtete mich auf, strich die zerwühlten Haare glatt und meldete mich betont forsch:
›Ja!‹
›Herr Kaufmann, hier ist wieder dieser Herr Igor. Soll ich ihn durchstellen?‹
›Ja.‹
›In Ordnung, hier ist er.‹
›Ja, Kaufmann, was kann ich für Sie tun?‹
›Ooh, das wissen Sie ganz genau, Herr Kaufmann‹, sprach er mich in seinem harten, aber guten Deutsch an.
›Haben Sie noch einmal nachgedacht über unser Gespräch von gestern? Ich hoffe, Sie haben Ihre Meinung geändert und wir können nun, wie sagen Sie hier so schön, `Nägel mit Köpfen machen´!‹
›Ja, ich habe noch einmal darüber nachgedacht!‹
Ich spürte wie der Zorn in mir aufstieg und musste mich sehr zusammennehmen, um ruhig und überlegt zu antworten.
›Aber an meiner Meinung hat sich nichts geändert. Ich lasse mich nicht erpressen, weder von Ihnen noch von anderen. Wenn Sie Geld verdienen wollen, suchen Sie sich einen Job oder bauen Sie sich selbst etwas auf, so wie ich, aber versuchen Sie nicht, auf Kosten anderer zu leben. Sie werden von mir nichts bekommen!! Und damit ist das Gespräch beendet!‹
Ich hatte den Hörer schon vom Ohr weggenommen, doch dann zog ich ihn zurück und fügte noch hinzu:
›Und belästigen Sie mich nicht wieder, es wird sich nichts an meinem Standpunkt ändern.‹
Bevor ich den Hörer wieder wegnehmen konnte, hörte ich ihn sagen: ›Gut, gut, ich habe es fast befürchtet. Aber wir werden ja sehen. Ich werde mich wieder melden, morgen, oder – ich denke – spätestens übermorgen. Bis bald!‹
Und mit diesen Worten legte er auf. Wütend schlug ich mit der Faust auf den Schreibtisch, knurrte einige halblaute Flüche vor mich hin und begann darüber nachzugrübeln, auf welche Weise mich dieser Igor dazu bringen wollte, seine Bedingungen zu erfüllen. Doch ich sollte nicht dazu kommen, meine Gedanken zu Ende zu bringen. Die täglichen Arbeiten standen an. Es kam ein Anruf nach dem anderen, der Vertreter eines unserer wichtigsten Lieferanten hatte einen Termin bei mir und meine Sekretärin erinnerte mich an den Mittagstermin in der Bank. Über all diesen Dingen hatte ich diesen Igor und mein Versprechen, mich mit der Polizei in Verbindung zu setzen, schon fast vergessen. Weswegen ich auch sehr erstaunt war, als ich beim Verlassen des Büros von meiner Sekretärin mit den Worten aufgehalten wurde: ›Herr Kaufmann, die Polizei ist am Apparat und möchte Sie dringend sprechen.‹
Ich schaute auf die Uhr und sagte: ›Das passt mir jetzt eigentlich überhaupt nicht! Lassen Sie sich die Nummer geben und wenn ich wieder da bin, rufe ich zurück.‹
›Hab ich schon vorgeschlagen, doch sie behaupten, es sei dringend und sie müssten sofort mit Ihnen sprechen.‹
Widerwillig vor mich hin knurrend ging ich wieder in mein Büro, nahm das Gespräch aus der Musik und meldete mich mit den knappen Worten: ›Ja, Kaufmann, was kann ich für Sie tun?‹
Eine leicht verunsicherte Stimme antwortete: ›Ja, äh, Herr Kaufmann, hier spricht Hauptwachtmeister Schlichter, äh, ich …‹
Ungeduldig unterbrach ich ihn: ›Herr Schlichter, wenn es nicht sehr dringend ist, möchte ich Sie bitten, das Gespräch vielleicht auf vierzehn Uhr zu verschieben, damit ich jetzt meinen Banktermin wahrnehmen kann.‹
Meine barsche, ungeduldige Art nahm ihm jede Hemmung und betont sachlich erwiderte er: ›Herr Kaufmann, ich denke es wäre besser, wenn Sie diesen Termin verschieben und erst einmal das Sonneberger Krankenhaus aufsuchen¸ denn ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Frau und Ihre Kinder einen schweren Verkehrsunfall hatten. Der Rettungsdienst müsste mittlerweile dort angekommen sein und ich werde, wenn die Ermittlungen hier vor Ort abgeschlossen sind, auch hinfahren.‹
Ich sank in meinen Bürosessel und fragte verständnislos: ›Unfall? Aber sie fährt doch immer so vorsichtig, besser als ich! Wie konnte das denn passieren, und wie geht es ihnen?‹
Ich schaute mit leeren Augen durch die offene Bürotür auf meine Sekretärin und nahm nur im Unterbewusstsein wahr, dass diese das Gespräch mitgehört hatte, denn erst in diesem Moment hatte ich den Hörer abgenommen und die Lautsprecherfunktion deaktiviert. Sie tat genau das, weswegen ich ihre Mitarbeit so schätzte, denn sie rief sofort die Bank an und verschob den Termin auf unbestimmte Zeit.

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